Erfahrungsbericht Russland

Von Klaus Harter.

18 Jahre lang leitete ich die russische Filiale des Moreno-Instituts für Psychodrama, Soziometrie und Gruppenpsychgotherapie, an dem ich als Gesellschafter beteiligt bin ( www.moreno-psychodrama.de). Vor vier Jahren haben wir die Filiale in russische Hände gegeben. Bis zum Ausbruch der Corona-Pandemie war ich jedes Jahr mindestens zweimal für je 10 Tage in Russland. Dort begleite ich die Ausbildung in der Psychotherapie mit unserem Verfahren des Psychodramas, gebe Supervisionsgruppen, inhaltliche Seminare zu verschiedenen psychiatrischen Krankheitsbildern, halte Vorlesungen an Unis und Hochschulen, gebe Radio und Fernsehinterviews etc.

Als Putin im Jahr 2000 in Russland an die Macht kam, herrschte Chaos im Land. Gorbatschow gilt in Russland als Vernichter und Totengräber der Sowjetunion und damit als Urübel für die Kränkung des russisches Volkes als ehemalige Führungsmacht. Jelzin war ein Chaot und hat nur Chaos verursacht. So kam es, dass die ersten Jahre der Regentschaft Putins auch von mir mit großem Wohlwollen begleitet wurden. Das Land blühte auf, es wurde breit investiert, die Wissenschaft und Lehre, in deren Dunstkreis ich mich bewege, strebte nach Westen, der Austausch mit europäischen Einrichtungen und Universitäten nahm erheblich zu, Russland übernahm das westliche Zertifizierungssystem von Bacheler und Master, so dass den russischen Student*innen die Welt offen stand. Die Infrastruktur wurde ausgebaut. Während meiner ersten Aufenthalte musste ich mir z.B. im Hotel ab und zu einen Wasserkocher ausleihen, weil es dort kein Heißwasser gab. Die fürchterliche Armut, vor allem alter Leute, wurde zurückgedrängt.

Man mag es heute gar nicht glauben, aber es entstanden auch neue Medien, die vom Staat gefördert wurden. Auch oppositionelle Parteien wurden gegründet und konnten unbehelligt arbeiten. Auch in der Wirtschaft und der Industrie blühte der private Sektor auf. Natürlich gab es da schon die wenigen Oligarchen, die in der Zeit von Jelzin das Staatsvermögen für einen Appel und Ei erwerben konnten und schnell unermesslich reich wurden. Aber unterhalb dieser Raubtierkapitalismusebene entstanden viele Mittelständler. So hatte ich z.B. die Mitbesitzerin des Exklusivimporteurs von Marley- oder Knauf-Produkten in der Gruppe. Was aber damals schon auffiel, war, dass in Russland kein eigener Entwicklungsprozess für zivile Produkte entstand. So gibt es z.B. in Rostow, der großen südrussischen Stadt nahe der Donmündung, in der ich am häufigsten bin, ein Mähdrescherwerk mit langer Tradition, das die eigene Entwicklung eingestellt hat und einfach z.B. Claas-Landmaschinen kopiert. Immer wieder sind mir bei meinen Aufenthalten Claas-Verantwortliche begegnet, die nur deshalb dort waren, um diese Raubkopiererei zu beenden. Mit fällt von den Rohstoffen auch kein russisches Produkt ein, das ich gern hätte.

Der grassierend und allgegenwärtige Alkoholismus wurde zurückgedrängt. Heute muss ich mich nicht mehr dem ständigen Angebot des Vodkatrinkens verwehren. Bis 2010 war die Behandlung Suchtkranker in der Hand ds Militärs, mit schlimmsten Folgen für die Patient*innen. Haftartige Unterbringungen, neurochirurgische Eingriffe in das Gehirn gegen den Willen der Patient*innen, Medikamentenversuche etc. Das ist alles vorbei. Es entstanden privatgeführte Suchtkliniken westlichen Standards, die unser und andere Angebote westlichen Standards abfragen.   

Zu Beginn meiner Tätigkeit in Russland tobten die Tschetschenienkriege. Die absolut menschenverachtende Kriegsführung war erschreckend. Da kamen langsam Zweifel an der Person Putin und seinem Machtsystem auf. Aber irgendwie waren die Geschehnisse noch weit weg. Das änderte sich schlagartig während des Einmarsches der russischen Truppen in Georgien, konkret in Südossetien 2008. Damals hatten wir unseren Gruppenraum in einem Bürokomplex auf der gleichen Etage, auf der auch der Veteranenverein der südrussischen Armee in Rostow sein Büro hatte. Ich kam mit den Soldaten dort ins Gespräch, sie luden mich zum Kaffee und zum Essen ein und begannen zu erzählen. Was sie mir erzählten und mit Bildern belegten, möchte ich hier nicht wiedergeben, solche Bilder braucht niemand in seinem Kopf. Äußerste Brutalität, Menschenverachtung pur, genau diese Bilder, die wir jetzt aus den befreiten ukrainischen Städten sehen. Bei dem Anschlag auf die Grundschule in Beslan im Jahr 2004 war ich nur 60 km entfernt. Ich habe die Reaktion der russischen Behörden gegenüber den kaukasischen Völkern unmittelbar erlebt. Kurz gesagt, die russische Propaganda versteht das eigene Volk als „Herrenvolk“ und behandelt die kaukasischen Völker, die ja überwiegend dem muslimischen Glauben angehören, als Untermenschen, denen niemand trauen kann.

Sehr viele meiner Student*innen und Kolleg*innen in Russland haben Verwandte in der Ukraine. Die Region Rostow grenzt an die Ukraine. Viele fuhren und fahren wahrscheinlich immer noch im Sommer auf die Krim oder nach Odessa, um Urlaub zu machen. Auch bei unseren Psychodramakongressen, die wir jedes Jahr organisieren, gab es immer Teilnehmende aus der Ukraine oder aus den baltischen Staaten. Sie gingen geschwisterlich miteinander um, die Nationalitäten spielten überhaupt keine Rolle. Der Herausgeber der russischsprachigen Fachzeitschrift, in der ich auch publiziert habe, war Pavel aus Kiew.

Immer wieder diskutierten wir in den Pausen oder bei Ausflügen an den Don oder in die Taiga die Frage, ob Russland zu Europa gehört, gehören will, oder sich eher als asiatischer Staat versteht. Dabei begegnete mir immer wieder die Aussage: „Ihr wollt uns doch gar nicht haben. Wenn Russland zu Europa gehört, warum ist der Mount Blanc dann der höchste Berg, wo der Elbrus im Kaukasus mit seinen 5642 m doch der höchste Berg ist?“ Also mit anderen Worten, „Ihr setzt die Regeln zu Eurem Vorteil und beutet uns nur aus, Partnerschaft sieht anders aus“. Und die Annexion der Krim war für viele nur folgerichtig, da sie ja schon immer zu Russland gehört habe. Da war nicht dagegen anzukommen.

Spätestens nach den Maidan-Unruhen und dem Sturz von Janukowitsch in der Ukraine 2014 kippte die Stimmung in Russland hin zu einem neuen Patriotismus. Die Ukraine entschied sich für einen Kurs nach Westen, was letztendlich die Besetzung und Annexion der Krim zur Folge hatte.

Und nun begann der Kurswechsel im Kreml öffentlich sichtbar, vor allem aber spürbar zu werden. Als ich wieder einmal in Kislowodsk zu tun hatte (liegt an der georgischen Grenze im Kaukasus unmittelbar unter dem Elbrus), kam ich in Kontakt mit einem deutsch-russischen Verein. Bei meinen weiteren Aufenthalten besuchte ich die Leute gern in ihren Räumen.

2014 baten sie mich, das Gespräch im Park fortzusetzen, weil sie wohl abgehört werden. Später brach der Kontakt ab.

Unsere früher zwangslos und offen geführten Gespräche über die Situation in Russland und dem Verhältnis unserer Staaten zueinander wurden immer seltener und immer schwieriger. Ich verstehe russisch nicht gut genug, um dem russischen Fernsehprogramm folgen zu können, trotzdem war es immer wieder und über die Jahre zunehmend erschütternd, zu erleben, mit welchem Tonfall in den Medien über den Westen berichtet wurde. Die Nachrichten Sprecher*innen brüllten ins Mikrofon, zum Teil hatten sie richtig Schaum vor dem Mund.  Ich verstand da, was „geifern“ bedeutet.

2019 kam es zu der Situation, dass mich zwei unserer Gruppenmitglieder baten, mit ihnen an die ukrainische Grenze zufahren (das sind ca. 80 km), um die Gräber ihrer Söhne zu suchen, die Militärangehörige waren und „während ihres Urlaubs mit Waffen“ in den von Russland besetzten Gebieten gekämpft haben und dort gefallen waren. Es war erschütternd. Die Gefallenen wurden anonym und ohne ein Grab auf irgendwelchen Wiesen verschafft. Einheimische gaben uns Tipps, wo wir hingehen sollten. Die Gefühle, mit diesen Müttern auf dieser Wiese zu stehen, muss ich hier nicht beschreiben, das kann sich jede/-r selbst ausmalen. Der Einzelne gilt in Russland nichts, gar nichts, er ist Eigentum und Verfügungsmasse des Staates.

Eine Entwicklung will ich noch erwähnen, bevor ich zum Kriegsbeginn weitergehe. Die russisch-orthodoxe Kirche erstarkte immens und schnell. Ich war ja bis Januar 2019 Mitarbeiter einer caritativen Einrichtung und auch stellvertretender Bundesvorsitzender von Ca-Su der Caritas-Suchthilfe. In dem Vorstand meines Arbeitgebers gab es ein Mitglied, das für die deutsche Caritas immer wieder nach Russland flog und dort Gespräche mit Patriarch Kyrill führte. Er bestätigte mir aus diesen Gesprächen, was ich im Land selbst wahrnahm, nämlich ein Schulterschluss der orthodoxen Kirche mit dem Kreml und eine stark zunehmende Hetze gegen Westeuropa. Im ganzen Land sprossen die orthodoxen Kirchen wie Pilze aus dem Boden, Kolleg*innen, bei denen ich nie eine Nähe zur Religion oder zur Kirche wahrgenommen hatte, begannen, die Messen zu besuchen und Ikonen aufzustellen. Auf meine Nachfragen fielen Sätze wie: „Die Kulturen des Westens sind dekadent, sie verlieren zunehmend jeden Bezug zu menschlichen Werten, sind USA- dominiert, erlauben Homosexualität und Transgender, sind letztendlich des Teufels und wollen uns vernichten.“ Angesprochen auf Werbeplakate in der russischen Öffentlichkeit, die mit kindlich und in Schuluniformen gekleideten Mädchen für den Besuch in Bordellen werben, bekam ich zur Antwort, wir würden ja im Westen ja auch den Kindesmissbrauch billigen.

Und im Februar kam nun der Krieg. Auch in Russland konnte sich das niemand aus meinem Bewegungsumfeld vorstellen. Geschweige denn, dass jemand ihn herbeigesehnt oder gewollt hätte. Ich habe meine schon geplante Reise für den März abgesagt. Auf meine Fragen, wie es ihnen den jetzt gehe, bekam ich zum Teil recht erschreckende Rückmeldungen. Manche schickten mir Material der russischen Propaganda mit haarsträubenden Behauptungen. Als ich mit westlichem Material reagierte, wurde mir vorgeworfen, ich würde meine Stellung missbrauchen und versuchen, zu manipulieren. Ca. ein Drittel meiner Kontakte brachen ab. Andere ginge zu Demonstrationen und riskierten ihre Freiheit und ihre Zukunft. Der größte Teil versucht sich durchzuwursteln, so wie viel von uns es wohl auch tun würden.

Meine Botschaft in den Gruppenseminaren, die ich weiter online halte, ist folgende: Ich erwarte von den Teilnehmenden die Bereitschaft, alle Haltungen und Meinungen zuzulassen, die Bereitschaft, sich in die Rollen anderer Teilnehmenden zu versetzen, auch wenn uns diese provozieren. Das ist das ethische Grundverhalten für psychotherapeutisch Tätige, ohne das wir nicht arbeiten können. Diese Botschaft scheint zu greifen, bei meinem letzten Seminar im September kamen 45 Teilnehmende. Also gebe ich die Hoffnung nicht auf.

Klar ist aber, auch wenn Russland den Krieg verlieren sollte, was ja noch keinesfalls ausgemacht ist, und in der Nachfolge von Putin wirklich eine Öffnung nach Westen stattfinden könnte, dann wird es Jahre, ja mit dem Blick auf unsere Bürger*innen in den neuen Bundesländern, Jahrzehnte dauern, bis es zu einer entspannten Beziehung kommen wird. Eine Grundvoraussetzung dafür ist die Bereitschaft in Russland, sich endlich der eigenen Geschichte zu stellen und die Gräueltaten währen der Zarenzeit, unter Lenin und Stalin aufzuarbeiten. Die schrecklichen Ereignisse während des zweiten Weltkrieges und während des Gulags liegen unaufgearbeitet als massive Kränkungen der russischen Seele auf dem Gemüt des Volkes und verhindern die Entwicklung einer bürgerlich getragenen Demokratie.

Für Fragen steht Klaus Harter gerne zu Verfügung: harterfamily@t-online.de