Mit dem Intercity von Stuttgart über Tübingen und Sigmaringen zum Bodensee – was Verkehrsplaner in mehr als hundert Jahren großflächig planten und bauten, könnte nach der Aktivierung von stillgelegten Bahnstrecken Wirklichkeit werden. Doch manche Kommune hat Angst vor der eigenen Courage.
Heute wäre man froh über eine schnelle Verbindung durch Oberschwaben. Mit dem Auto benötigt man für die rund 140 Kilometer lange Verbindung zwischen Ulm und Radolfzell zwei Stunden und 15 Minuten, die Bahn brauchte bereits 1875 nur 100 Minuten. Diese Verbindung jedoch sollte nur knapp 100 Jahre erhalten bleiben. Sie galt als unrentabel, Teile wurden zurückgebaut, andere nur noch sporadisch für den Güterverkehr verwendet.
Nun aber, auch im Zuge der Klimadiskussion, werden vom Bund Geldmittel frei. Und auch das Verkehrsministerium in Stuttgart hält die Ablachtalbahn für wieder aktivierbar. Ralf Derwing, im normalen Leben Gymnasiallehrer in Konstanz und inzwischen Experte für die Initiative Bodensee-S-Bahn (IBSB), hat in zahlreichen Vorträgen die Potentiale der Ablachtalbahn aufgezeigt. Seiner Ansicht nach kann die Strecke sofort für den Freizeitverkehr fit gemacht werden. „Es gibt Schäden durch Biber im Bereich Meßkirch-Sauldorf, aber die sind nicht so gravierend“, sagt Derwing.
Hauptargument für die Ablachtalbahn sind für die IBSB, geringe Fahrzeit-Unterschiede und die Aktivierung der Verbindung Sigmaringen-Krauchenwies. Mit dieser Spange wäre die Alblachbahn gerade für den Fernverkehr interessant und damit auch für die anliegenden Gemeinden. So könnten auf der Strecke Konstanz, Stockach, Meßkirch, Sigmaringen, Tübingen, Stuttgart über die Spange Krauchenwies–Sigmaringen IRE-Züge verkehren. Ebenso wäre es möglich, den Fernverkehr Ulm–Zürich (215 km) über die Ablachtalbahn zu führen statt über die Gürtelbahn am Bodenseeufer. Das ist kilometermäßig weniger und geht schneller. „Mit der Ablachtalbahn und der Spange nach Sigmaringen schaffen wir zwei attraktive Fernverkehrsverbindungen“, sagt Derwing.
Klimadiskussion heizt Reaktivierungsdebatte an
Die Zeit scheint günstig für Visionen wie diese, um gerade auch in strukturschwachen Gebieten den öffentlichen Personennahverkehr voranzubringen. Denn für die Verkehrsinfrastruktur gibt es im Zuge des Klimaschutzpakets Geld vom Bund, auch, um stillgelegte Strecken wieder zu aktivieren. Zudem gibt das Bundesverkehrsministerium (BVM) durch eine Novelle des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes mehr Mittel für den Öffentlichen Personennahverkehr frei. Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer möchte „schnell und unbürokratisch dringende Investitionen in den Neu- und Ausbau des Nahverkehrs ermöglichen“, heißt es in einer Pressemitteilung aus dem BVM.
Ablachtalbahn – in Rot die Strecke, um die es hier geht. 40 weitere mögliche Reaktivierungsstrecken für den Schienenpersonennahverkehr hat das Landesverkehrsministerium in Baden-Württemberg identifiziert. Hier geht’s zur Übersichtskarte. (red)
Auch das Land mit dem von den Grünen geführten Verkehrsministerium stellt keine Hürden auf, im Gegenteil: Winfried Hermann hat ein Programm zur Reaktivierung stillgelegter Bahnstrecken auf den Weg gebracht. Mit dabei: die rund 40 Kilometer lange Ablachtalbahn von Stockach nach Mengen und die 9,4 Kilometer Gleise von Sigmaringen nach Krauchenwies. Damit gäbe es eine Chance für eine direkte Verbindung zwischen Tübingen und Konstanz.
Allerdings könnte man meinen, dass sich die Kommunalpolitik manche Hürden selbst in den Weg legt. So wie in Sigmaringen: Hier wurde im Gemeinderat beschlossen, die Wiederaktivierung der Ablachtalbahn von Stockach nach Mengen mit dem Abzweig nach Sigmaringen nicht zu unterstützen. Auf Antrag der CDU ist eine Textpassage in einer Stellungnahme der Stadt Sigmaringen zum künftigen Regionalplan gelöscht worden. „Sigmaringen lehnt die Ablachtalbahn ab“, titelte danach die „Schwäbische Zeitung“ und meinte die Mehrheit durch CDU, SPD und FWV. Im Gespräch unterstreicht die Fraktionsvorsitzende der CDU im Sigmaringer Gemeinderat, Alexandra Hellstern-Missel, die Entscheidung, weist aber darauf hin, dass die Fraktion nicht blockieren wolle: „Natürlich sind wir für den Verkehr auf der Schiene, aber wir wollten in die Stellungnahme zum Regionalplan nur die Punkte aufnehmen, die wirklich die Stadt betreffen.“ Als Beispiel nennt sie Bahnhalte in einigen Ortsteilen Sigmaringens, die die Zollernalb-Bahn betreffen. „Wir priorisieren die Zollernalb-Bahn“, sagt Hellstern-Missel. Damit ist die Elektrifizierung der Zollernalb-Bahn von Sigmaringen nach Albstadt gemeint. Aber würde die Unterstützung des einen Projektes das andere torpedieren?
Keine eindeutigen Signale
Im Verkehrsministerium in Stuttgart hält man sich mit Visionen zurück. Wo manche schon Fernverkehrszüge rollen sehen, schaut man hier nüchtern auf die 41 stillgelegte Strecken, die derzeit landesweit untersucht werden. „Beide Varianten – die Ablachtalbahn als Einzelprojekt und die Ablachtalbahn mit dem Abzweig Krauchenwies–Sigmaringen – werden untersucht. Ob eine Strecke priorisiert wird, kann erst nach Abschluss der laufenden Untersuchungen bekannt gegeben werden“, sagt Ministerialdirektor Uwe Lahl. Im ersten Halbjahr 2021 seien die Untersuchungen abgeschlossen, dann könne man über die Reaktivierung der Strecken mehr sagen.
Aus Sicht des Verkehrsministeriums ist es allerdings nicht sinnvoll, Elektrifizierungs- und Reaktivierungsprojekte gegeneinander auszuspielen. „Bei beiden Projektarten ist es Voraussetzung, dass die Maßnahme einen volkswirtschaftlichen Nutzen hat“, sagt Lahl. Ergebe die Untersuchung der Ablachtalbahn mit einer Abzweigung von Krauchenwies einen entsprechenden Nutzen, würden diese Projekte zukünftig mit 90 Prozent der zuschussfähigen Kosten gefördert (das Gesetz muss allerdings erst noch den Bundesrat passieren – siehe unten). Da zugleich die Mindestvorhabengröße für eine Bundesförderung von 50 Millionen Euro auf zehn Millionen Euro gesenkt wird, stehe einer Umsetzung beider Vorhaben bei einem nachgewiesenen volkswirtschaftlichen Nutzen eigentlich nichts mehr entgegen, so der Ministerialdirektor.
Verkehrsexperte Ralf Derwing kommt bei solchen Streckenvisionen ins Schwärmen. Er beschreibt in seinen Vorträgen, dass Züge künftig elektrobetrieben von Tübingen womöglich sogar zweigleisig über Sigmaringen, Krauchenwies und weiter Richtung Stockach und nach Radolfzell/Konstanz fahren könnten. Eine attraktive weitere Strecke von Stuttgart/Tübingen direkt bis zum Bodensee würde so geschaffen und Sigmaringen würde zum Verkehrsknotenpunkt werden. Wie einst: Als ehemaliger „Hauptstadtbahnhof“ (Sigmaringen war von 1850 bis 1945 Sitz der preußischen Regierung der Hohenzollernschen Lande) verband er bis 1969 sechs Bahnstrecken miteinander. Dort, wo derzeit vier Linien aufeinander treffen, kämen dann eine fünfte und sechste hinzu.
Unsicherheit gibt es bei den Kommunalpolitikern von der CDU aber weiterhin. Einerseits wolle man den Verkehr auf der Schiene nicht blockieren, „andererseits weiß niemand, wer das alles bezahlen soll“, sagt die Kommunalpolitikerin Alexandra Hellstern-Missel.
Verkehr auf die Schiene!
Die Verkehrspolitik völlig neu denken möchte der Kreisverband der Grünen in Sigmaringen. „In der Ablachtalbahn ruht ein Potential für unsere Region“, sagt Klaus Harter, Kreisvorsitzender der Grünen. Allein die Möglichkeit, mit der Aktivierung des Bahnabschnittes zwischen Stockach und Mengen Kies und andere Güter vom Kieswerk Schwackenreute von der Straße auf die Schiene zu bewegen, könnte aus seiner Sicht für Aufsehen sorgen. Ein Besuch vor Ort zeigt: Die alten Gleise am groß dimensionierten Bahnhof in Schwackenreute zeugen von einstmals goldenen Schienenzeiten. Neben Kies wurde dort auch Holz verladen, auch Züge mit Gastanks rollten von hier durch Oberschwaben und Richtung Bodensee. „Daran kann man sehen, dass die Strecke sowohl für den Gütertransport als auch für den Personenverkehr interessant ist“, sagt Klaus Harter.
Verkehrsexperte Ralf Derwing am Nordpfeiler des aufgelassenen Eisenbahnviadukts östlich von Sigmaringen.
Während in Schwackenreute seit Jahren der Güterverkehr ruht, diskutiert man im Landkreis Sigmaringen gleichzeitig über eine Neuordnung der parallel zur Bahnstrecke verlaufenden B311 zwischen Meßkirch und Mengen und hat dafür extra eine Personalstelle geschaffen. Vorgeschlagen sind neben einer Nord- und einer Südtrasse, eine Straßenführung durch den fürstlichen Park. Diese Trasse würde eine Schneise durch sensibles Waldgebiet schlagen.
Während die CDU im Kreis sich für diese Personalstelle eingesetzt hat, ist das für den Grünen Klaus Harter das falsche Signal. Würde man der Vision folgen, mehr Güterverkehr auf die Schiene zu bekommen, müsste man über eine neue Streckenführung der B311 erst gar nicht nachdenken, sagt der Kreisvorsitzende. Dann eher über einen Bahnverlade-Punkt in Meßkirch, der den Verkehr nach Osten Richtung Ulm aufnehmen würde.
Wenig verwunderlich, dass auch der Verkehrsclub Deutschland (VCD) die Strecke aktivieren will. „Gerade auch auf dem Land brauchen wir die Schiene“, sagt Matthias Lieb vom VCD. Untersuchungen zeigten, dass bei Pendlern die Schiene beliebter ist als der Bus. Die Chancen für eine Streckenbelebung durch die Förderung aus Berlin seien so gut wie nie. „Es wäre schade, wenn man da als Kommune nicht zugreifen würde“, sagt Lieb. Um eine Signal zu senden, müsste nun alles in Bewegung gesetzt werden, um zumindest den Ausflugsverkehr ab diesem Sommer zwischen Mengen und Stockach fahren zu lassen.
Neben der CO2-Einsparung und der Verkehrsverlagerung auf die Schiene spricht Verkehrsexperte Ralf Derwing zusätzlich von Entwicklungsachsen. „Durch eine Aktivierung von Zugstrecken gewinnen Orte an Attraktivität“. Als Beispiel nennt er Erfurt, das an das Schnellbahnnetz der ICE-Strecke München–Berlin angeschlossen wurde. Und tatsächlich, nachdem Erfurt damit zum Bahnknotenpunkt in der Mitte Deutschlands wurde, gab es Neugründungen von Firmen. Aus Berlin, München und Frankfurt reist man in jeweils in zwei Stunden hier her.
Eingewachsene Gleise an der Verladestation von Valet und Ott – jährlich 200.000 Tonnen Kies wurden bis in die 2000er-Jahre hinein abgebaut und viel davon via Schiene abtransportiert.
Zurück zur kleineren Ablachtalbahn: Dass zukünftig IRE-Züge auf dem Weg in die Schweiz in Mengen und in Krauchenwies halten könnten, hält Ralf Derwing für denkbar. Und auch die Anbindung von Stuttgart über Tübingen, Sigmaringen, Krauchenwies nach Stockach und an den Bodensee könnte in greifbare Nähe rücken. Sigmaringen würde plötzlich eine neue Attraktivität erlangen. Mit der Elektrifizierung und dem zweigleisigen Streckenausbau der Donautalbahn könnte die Kreisstadt zudem in einer knappen Stunde mit Ulm verbunden werden und damit sogar einen Pendlerstatus erlangen.
Allerdings muss dies noch in allen Rathäusern ankommen. Sigmaringens Bürgermeister Marcus Ehm (CDU) hatte sich bei der obigen Abstimmung zur Ablachtalbahn enthalten. „Ein falsches Zeichen“, findet Derwing, der aber glaubt, dass es hier an Information fehlt. Andere Bürgermeister an der Strecke positionieren sich eindeutiger. Arne Zwick (CDU) aus Meßkirch zum Beispiel möchte die Bahnstrecke unbedingt und auch Wolfgang Sigrist (CDU), Bürgermeister der 2500 Einwohnergemeinde Sauldorf, würde sich über die Belebung der Ablachtalbahn freuen: „Ich bin überzeugt, dass die Wiederaufnahme einen massiven Entwicklungsschub für die Region bringen wird!“
Aufgelassenes Viadukt, zum Teil eingewachsen an der Strecke Sigmaringen–Krauchenwies. 1969 fuhr hier der letzte Personenzug von Meßkirch nach Sigmaringen. Die Trasse gibt es noch, die meisten Schienenstränge wurden aber entfernt.
Von Rüdiger Sinn
(Text und Fotos)
Datum: 05.02.2020