Jüdisches Leben in Baden-Württemberg zwischen Jubiläumsfeiern und antisemitischer Gewalt

Jüdisches Leben sichtbar machen

Gespräch über einen gewünschten offenen Dialog und Antisemitismus

Wie gestaltet sich das jüdische Leben in Baden-Württemberg und was können Parteien, was kann jeder/jede Einzelne gegen Antisemitismus tun. Diese Themen beschäftigte die virtuelle Gesprächsrunde, zu welcher der Kreisverband Sigmaringen von Bündnis 90/Die Grünen eingeladen hatte. Professorin Barbara Traub, Vorstandssprecherin der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württemberg (IRGW) und Mitglied im Präsidium des Zentralrats der Juden in Deutschland, Rami Suliman, Vorsitzender der Israelitischen Religionsgemeinschaft Baden, sowie der Religionswissenschaftler Dr. Michael Blume, Referatsleiter für nichtchristliche Religionen im Staatsministerium Baden-Württemberg sowie Beauftragter der Landesregierung gegen Antisemitismus, stellten sich den Fragen von Religionswissenschaftler Johannes F. Kretschmann, Fraktionsvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen im Sigmaringer Kreistag. Knapp 30 Interessierte verfolgten den angeregten Austausch.

Als Barbara Traub  1992 nach Deutschland kam, wo ihr Mann eine Professur erhalten hatte, habe man ihr zur Begrüßung das Buch „Die jüdischen Friedhöfe in Württemberg“ geschenkt. „Damals habe ich mir überlegt, wenn Friedhöfe das sind, was die Menschen mit dem Judentum in Verbindung bringen, muss man etwas ändern“, erzählte sie schmunzelnd, traf damit aber einen zentralen Kern im Umgang mit dem Judentum in Deutschland. In der Gesprächsrunde kristallisierte sich heraus, dass das jüdische Leben in der Gesellschaft wenig wahrgenommen werde, es sei denn an Holocaust-Gedenktagen.

Barbara Traub wuchs in Wien auf und zog mit ihrer Familie nach einem einjährigen Aufenthalt in Israel nach Deutschland. Damals hatte sie zwei kleine Söhne, der jüngste war noch nicht einmal ein halbes Jahr alt. Schon allein in Hinsicht auf ihre Kinder sei es ihr ein Anliegen gewesen, das aktuelle jüdische Leben ins Zentrum zu rücken. Die Erinnerung an eine jüdische Gemeinde sollte nicht allein an die Vergangenheit geknüpft sein, sondern an die Gegenwart mit dem Ziel eines gemeinsamen Gestaltens in der Zukunft. Gedenktage seien wichtig, bestätigten alle Gesprächspartner, doch der Fokus müsse in die Zukunft gerichtet sein, um gegenseitiges Verständnis aufzubauen. Barbara Traub betrachtet es als ihre Aufgabe, im Besonderen als Vorstandssprecherin der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württemberg, sich aktiv am sozialen und kulturellen Leben eizubringen, sich in Gremien zu engagieren. Die jüdischen Kulturwochen in Stuttgart seien beispielsweise eine gute Gelegenheit für einen Austausch.

„Wir bauen auf unsere Jugend“, richtete auch Rami Suliman seinen Blick nach vorne. Er wurde in Israel geboren und kam im Jahr 1979 nach Deutschland. Er berichtete von den unterschiedlichen Strömungen innerhalb des Judentums, die es in einer jüdischen Gemeinde zu integrieren gebe. Die pluralistisch strukturierten Gemeinden umfassen sowohl orthodoxe Ausrichtungen, in welchen beispielsweise Männern und Frauen unterschiedliche Aufgaben zukommen, als auch liberale, in welchen Frauen die gleichen Rollen übernehmen wie die Männer. Insgesamt könne man von einem pluralen Judentum sprechen. In der Israelitischen Religionsgemeinschaft Baden gebe es zehn jüdische Gemeinden mit insgesamt 5000 Mitgliedern. Jede habe ihre eigene Satzung. „Wir hatten im Jahr 2014 ein Hoch“, berichtete Rami Suliman. Seit jener Zeit hätten die Gemeinden viel erneuert und auf eine gute Zusammenarbeit mit den Ministerien bauen können.

Der Vorsitzende der Israelitischen Religionsgemeinschaft Baden ging auch auf die Zersplitterung der jüdischen Gemeinden in Baden-Württemberg ein. Diese sei durch das bundesweite Flüchtlingsaufnahmegesetz entstanden, das die jüdischen Migranten aus der ehemaligen Sowjetunion auf die verschiedensten deutschen Gemeinden aufgeteilt habe. „Das war eine sehr schwierige Situation für die jüdischen Migranten“, berichtete Suliman. „Sie wurden dorthin verstreut, wo es keine jüdische Infrastruktur gab.“ Doch die Gemeinden hätten sich zusammengefunden und trotz der Schwierigkeit positiv entfaltet. „Das ist eine Erfolgsgeschichte, auf die wir stolz sein können“, resümierte Suliman.

„Wir dürfen nicht übersehen, dass es ein lebendiges jüdisches Leben bei uns gibt“, betonte Dr. Michael Blume. Es sei an der Zeit, nicht immer nur über Antisemitismus zu sprechen oder etwa Mitleid mit Juden zu empfinden, sondern positive Erzählungen in den Vordergrund zu stellen. Statt Mitleid zu bekunden, solle man den jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern Respekt entgegenbringen. „Zu einer Erinnerungskultur sage ich Ja“, ergänzte Michael Blume, doch er wünsche sich eine Auseinandersetzung mit dem aktuellen Judentum.

Auf die Frage von Johannes F. Kretschmann, warum es so viele Vorurteile gegen Juden gebe, obwohl es doch eine lebensbejahende Religion sei, erläuterte Barbara Traub einen Aspekt. Die jüdische Religion habe etwas Progressives. „Sie musste sich immer an Gesellschaften anpassen“, beschrieb sie. Dabei habe sie Elemente übernommen und eigene eingebracht. „Doch die Grundwerte der jüdischen Ethik haben wir nie aufgegeben“, betonte sie. Die jüdischen Gebote organisieren das Zusammenleben in der Gesellschaft. In ihnen stecke insofern soziale Sprengkraft, da in ihrem Mittelpunkt die Gerechtigkeit stehe, während die Gemeinschaft der christlichen Religionen auf Nächstenliebe basiere. Gerechtigkeit beinhalte, die Schwachen zu schützen und für einen sozialen Ausgleich zu sorgen, wenn jemand geschwächt werde. Das sei eine große und verantwortungsvolle Aufgabe.

„Was machen wir gegen Antisemitismus“, wollte Johannes F. Kretschmann im Hinblick auf eine grüne Politik wissen. Barbara Traub verwies auf die emotionale Bildung, die resultiere, wenn es zu Begegnungen käme. Wenn über das Judentum geredet werde, sollte es nicht nur um Sicherheit gehen, sondern um den Austausch und ein lebendiges Miteinander. Nur dadurch könnten Vorurteile abgebaut werden, waren sich alle einig. Mit der Einrichtung einer jüdischen Akademie könnte sich das Judentum positiv in der gegenwärtigen Gesellschaft platzieren. Darüber hinaus dürften antisemitische Parolen und Handlungen nicht ignoriert werden. Der Staat müsse hier klare Grenzen setzen, unterstrich auch Michael Blume. „Jeder muss für das Verantwortung übernehmen, was er glaubt.“ Immer nur Verständnis für Intoleranz aufzubringen sei der falsche Weg. Vielleicht müsse jeder lernen, dass er seine Identität wahren könne, auch wenn wir uns an veränderte Umstände anpassen. „Wenn wir gegen Antisemitismus kämpfen, tun wir dies nicht für uns allein, sondern auch für andere“, ergänzte Rami Suliman. Es sei ein Eintreten für gegenseitiges Verständnis und Toleranz in der Bevölkerung.

Die Zuhörer der Gesprächsrunde hatten zwar die Gelegenheit, Fragen zu stellen, hielten sich jedoch zurück. Die Chatbeiträge signalisierten viel Lob für den interessanten Austausch. Die TeilnehmerInnen der Runde, darunter auch Andrea Bogner-Unden MdL, bedankten sich für das rege und interessante Gespräch. Für die Bündnis 90/Die Grünen bedankte sich Gesprächsleiter Johannes F. Kretschmann bei den Referenten sowie bei Organisator Klaus Harter.